Institut für Nomadologie

Dokumentation der Ausstellungs-Texte

Berliner Geschichtswerkstatt

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Niemand hat die Absicht, eine Festung Europa zu errichten

Die hier dokumentierten Texte waren Teil der "Berliner Mauer", die auf dem Berliner Alexanderplatz vom 30.08. bis 01.09.2004 als Kunstaktion im Rahmen des Projekts  "Mauern. Berlin - Schengen, 1989 - 2004" errichtet wurde.

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Mauern. Berlin - Schengen 1989 - 2004

Vor fast 15 Jahren fiel die Berliner Mauer. Weltweit symbolisiert der 9. November 1989 das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas; euphorisch begrüßten besonders die Deutschen die neue Bewegungsfreiheit. Seither sind rund um das im Vertrag von Schengen definierte Europa neue Mauern gebaut worden, ob an der Straße von Gibraltar oder an der polnisch-ukrainischen Grenze. Jedes Jahr sterben Hunderte von Flüchtlingen beim Versuch, die befestigten Außengrenzen der EU zu überwinden. Der Bau dieser Schengen-Mauer wurde hier in Berlin beschlossen: Es ist vor allem die Bundesregierung, die auf die Abschottung der vermeintlich bedrohten Festung Europa drängt. Daher sind wir für ihre Opfer mitverantwortlich. 

Mit einem Vergleich der Berliner Mauer und der Schengen-Grenzen sollen keineswegs die historisch unterschiedlichen Grenzregime der DDR und der EU gleichgesetzt werden: Unter anderem ließ die Berliner Mauer die DDR-BürgerInnen nicht heraus, während die Schengener Mauer MigrantInnen nicht hereinlässt. Beide Mauern soll(t)en vor allem Arbeitsmärkte regulieren und damit Systeme stabilisieren. Grenzmauern sind aber auch geistige Barrieren und ideologische Sichtblenden und dienen zugleich als Projektionsflächen der Fremd- und Selbstwahrnehmung. 

Mit Inszenierungen, Informationen und Interviews thematisieren Forscherinnen und Forscher des Instituts für Nomadologie zusammen mit Mitgliedern der Berliner Geschichtswerkstatt die Mauer von Schengen. Wir informieren über den Ausbau des europäischen Grenzregimes seit 1989, über seine konkrete Ausgestaltung an exemplarischen Orten und über die Opfer der inhumanen Abschottungspolitik. Und wir stellen die Bilder in Frage, die die Festung Europa in unseren Köpfen hervorruft: Was bedeutet Schengen-Europa für Menschen dies- und jenseits dieser Mauer?

 

Die Berliner Mauer

"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten", log Walter Ulbricht im Sommer 1961. Am 13. August 1961 sperrte die Regierung der DDR die Grenzen zu West-Berlin ab. Die Berliner Mauer diente der Stabilisierung eines diktatorischen Systems, das Arbeitskräfte behalten wollte, missliebige Menschen aber - gegen D-Mark - über die Mauer abschob. 

Viele Menschen auf der Ostseite orteten hinter der kaltgrauen Wand ihre vom Westfernsehen inspirierten - nach 1989 oft bitter enttäuschten - Träume von einem besseren Leben. Tausende suchten im Westen politische Freiheit oder materiellen Wohlstand. Über 250 Menschen wurden bei Fluchtversuchen allein in Berlin getötet. 

Nach dem Mauerbau fehlten in West-Berlin plötzlich Arbeitskräfte, so dass nun auch hier, wie vorher in Westdeutschland, Migrantinnen und Migranten aus dem Mittelmeerraum angeworben wurden. 1986 dagegen drängte Bonn die DDR erfolgreich dazu, die Mauer noch ein wenig dichter zu machen: Flüchtlinge aus der Dritten Welt, die über den Flughafen Schönefeld und den Bahnhof Friedrichstraße nach West-Berlin einreisen wollten, bekamen kein Transitvisum mehr. 

Im Westen diente die Berliner Mauer als antikommunistischer Schutzwall gegen linke Kritik ("Geh doch rüber!"), als ideologische Sichtblende und als Projektionsfläche der Eigenwahrnehmung: "Die Mauer wurde den Deutschen im Westen zum Spiegel, der ihnen Tag für Tag sagt, wer der Schönste im Lande ist." (Peter Schneider, Der Mauerspringer)

 

Schengen-Mauern - innerhalb und außerhalb der EU

Die EU-Grenzsicherung beginnt weit jenseits der Grenzen der EU und hört innerhalb der Union keineswegs auf. In Sri Lanka etwa finanziert Brüssel den dortigen Grenzschutz, dessen Aufgabe es hauptsächlich ist, Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Norden an der Flucht außer Landes zu hindern. Heute schlägt der deutsche Innenminister mit Verweis auf die "täglichen Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer" vor, dass MigrantInnen aus Afrika in Lager in nordafrikanischen Ländern gebracht werden und von dort aus ihr Asylverfahren nach Europa betreiben sollen. Schily denkt dabei an Staaten wie das vom Diktator Gaddhafi beherrschte Libyen oder das de-facto-Bürgerkriegsland Algerien. 

Aber auch für Flüchtlinge, die es tatsächlich nach Europa geschafft haben, ist die "Grenzsituation" noch lange nicht vorbei. Zur Zeit erhalten in Deutschland 1,7% der Flüchtlinge Asyl, Tendenz stark sinkend. Während des Asylverfahrens macht die "Residenzpflicht" selbst für seit langem hier lebende Flüchtlinge jede Landkreisgrenze zu einer nur illegal zu überwindenden Mauer. Wem kein Aufenthaltsrecht zugesprochen wird, hat binnen kurzer Frist die EU zu verlassen, andernfalls drohen Abschiebehaft und dann die Abschiebung - durchaus nicht immer ins Herkunftsland. Ein Teil der abgelehnten AsylbewerberInnen kann nicht abgeschoben werden, z.B. weil die Behörden des Herkunftsstaates ihre Mitarbeit verweigern oder weil dort keine entsprechenden staatlichen Strukturen existieren (etwa in Somalia), aber auch aus Krankheits- oder ähnlichen Gründen. Bisher erhielten diese Menschen eine "Duldung", die niedrigste aller staatlichen Aufenthaltsberechtigungen, die immer nur sehr kurzfristig verlängert wird. 

Das sogenannte Zuwanderungsgesetz schafft aber selbst dieses Rechtsinstitut ab: Flüchtlinge, die vormals eine Duldung erhalten hätten, werden in Lagern, sogenannten Ausreisezentren, konzentriert und psychologisch bearbeitet, damit sie "freiwillig" das Land verlassen. Statt Geld erhalten sie dort nur "Vollverpflegung", d.h. Fresspakete. Obwohl das "Zuwanderungsgesetz" noch nicht in Kraft ist, sind solche "Ausreisezentren" an vielen Orten schon in Betrieb. 

Zur Zeit reisen Flüchtlinge und UnterstützerInnen im Rahmen der "Anti-Lager-Action-Tour" durch Deutschland, um auf diese und andere diskriminierende Behandlungen von Flüchtlingen aufmerksam zu machen und dagegen zu protestieren. Wir halten an dem Recht jedes Menschen fest, sein Glück zu suchen - das Überwinden von Mauern kann kein exklusives Recht der Deutschen sein.

 

 

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Kurze Geschichte der Festung Europa

Die im Vertrag von Schengen beschlossene Abschaffung der Passkontrollen an den EU-Binnengrenzen ist - neben dem Euro - der für die meisten Menschen spürbarste Aspekt der europäischen Einigung. Sie ist jedoch verbunden mit einer juristisch-polizeilichen Abschottung der Außengrenzen der "Festung Europa", die jährlich Hunderten von Flüchtlingen den Tod bringt. 

 

Bereits 1985 vereinbarten fünf europäische Staaten im luxemburgischen Weindorf Schengen den schrittweisen Abbau der Personenkontrollen an den Binnengrenzen. 1990 regelte das Schengener Durchführungsabkommen ("Schengen II") die Details: verstärkte Grenzkontrollen an den Außengrenzen, eine gemeinsame Visapolitik und eine intensive polizeiliche Zusammenarbeit. Nach und nach traten andere Staaten dem Schengener Abkommen bei. 1995 wurden die Bestimmungen von Schengen II in Deutschland, Frankreich, Spanien, Portugal und Benelux in Kraft gesetzt. Später kamen Italien, Griechenland, Österreich und Skandinavien hinzu, nicht jedoch Großbritannien und Irland. 1999 integrierte der Vertrag von Amsterdam das Schengen-System in den Rechtsrahmen der Europäischen Union. In Dublin hatten die EU-Mitgliedsstaaten bereits 1990 Grundregeln einer gemeinsamen Asylpolitik beschlossen; in einer seit 2003 gültigen EU-Verordnung ("Dublin II") wurden sie konkretisiert. Seither werden europaweit Fingerabdrücke im Datensystem Eurodac gesammelt. 

Für die am 1. Mai 2004 der EU beigetretenen Mitgliedstaaten werden die Kontrollen an den Binnengrenzen erst wegfallen, wenn sich die anderen Regierungen von ausreichenden Kontrollen der Außengrenzen überzeugt haben, frühestens 2007. Schon seit Anfang der 1990er Jahre haben die Kandidatenländer ca. 650 Mio. Euro für einen effektiveren Grenzschutz bekommen. 

Die Abschottung der Festung Europa ist wirksam: Nur 2 % der weltweit circa zwölf Millionen internationalen Flüchtlinge kommen nach Europa; Tendenz abnehmend: 2003 sank die Zahl der Asylgesuche in der gesamten EU gegenüber 2002 um 22 % auf 288 000. Davon kamen nur 50 000 nach Deutschland; dies ist die niedrigste Zahl seit 1984.

 

Arbeitnehmer-Freizügigkeit

Die Europäische Gemeinschaft war und ist zunächst eine Wirtschaftsunion, von der vor allem die Unternehmen profitieren. Die 1968 eingeführte Freizügigkeit erlaubte allen EU-Bürgern, in anderen Ländern der Union zu arbeiten. Sie wurde nach und nach für alle Neumitglieder übernommen, ohne dass es dadurch zu den teilweise befürchteten Migrationsschüben gekommen wäre. 

Ein Beispiel ist Portugal: Trotz offener Grenzen und eines um mindestens ein Drittel niedrigeren Lebensstandards gibt es keine Massenwanderung von PortugiesInnen nach Deutschland. Für die am 1. Mai 2004 beigetretenen osteuropäischen Staaten haben verschiedene EU-Staaten Übergangsfristen von zunächst zwei, höchstens sieben Jahren beschlossen, bis die NeubürgerInnen auch dort arbeiten dürfen.

 

Asylrecht

Während der Nazidiktatur mussten viele Deutsche ins Ausland fliehen. Deshalb garantierte das Grundgesetz das Asylrecht. Als die osteuropäischen Grenzen geöffnet wurden, verabschiedete sich die Bundesrepublik von dieser historischen Verantwortung. Nach fremdenfeindlichen Wahl- und Pressekampagnen und gewalttätigen Ausschreitungen gegen Flüchtlinge beschlossen CDU/CSU, SPD und FDP 1993 die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl: Wer aus einem sogenannten "sicheren Drittstaat" einreist, hat grundsätzlich keinen Asylanspruch. 

Zu den "sicheren" Drittstaaten gehören alle Nachbarn Deutschlands und in Zukunft womöglich auch Staaten wie Weißrussland oder die Türkei. Noch ist Deutschland an die Genfer Flüchtlingskonvention gebunden, die aber in vielen EU-Ausführungsbestimmungen - nicht zuletzt auf deutschen Druck hin - immer mehr ausgehöhlt wird.

 

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Schengen - Grenzen und Opfer 

Eine von der französischen Zeitung Le Monde Diplomatique zusammengestellte Karte zeigt die tödlichen Brennpunkte von Schengen-Europa.

 

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Opfer der Festung Europa 

Nach einer unvollständigen Aufstellung der niederländischen Organisation "United against racism" kamen infolge der Festung Europa seit 1993 über 5 000 Menschen ums Leben. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte weit höher liegen. Die meisten sind im Mittelmeer ertrunken oder in Kühllastern erstickt; aufgeführt werden aber auch in Polizeigewahrsam Getötete, Opfer rassistischer Angriffe und Selbstmordfälle in Abschiebegefängnissen.

 

 

Ceuta - die europäische Mauer in Afrika

Ceuta und Melilla sind Städte auf dem afrikanischen Kontinent, die als Teile Spaniens seit 1985 zur Europäischen Union gehören und daher über die einzigen Landgrenzen zwischen der EU und Afrika verfügen. Seit sich die meisten Mitgliedsstaaten der EU im Schengener Abkommen auf das Ende der internen Grenzkontrollen verständigt haben, wurden diese beiden Landgrenzen mit Geldern aus Brüssel massiv ausgebaut. Ziel der Grenzbefestigungen in Ceuta und Melilla ist es, die Einreise von afrikanischen und asiatischen Flüchtlingen und MigrantInnen zu verhindern. Doch trotz High-Tech-Grenzsicherung mit einem gut fünf Meter hohen Doppelzaun, gekrönt von Natodraht und ausgestattet mit Infrarotkameras und elektronischen Sensoren, überwinden viele Menschen die Grenze, indem sie sich in Fahrzeugen verstecken, die Grenzschützer bestechen oder die Grenze umschwimmen. 

Ceuta ist nicht gleichzusetzen mit dem europäischen Festland. Um von dort nach Spanien zu gelangen, müssen erneut Grenzkontrollen passiert werden. Für die meisten der MigrantInnen wird Ceuta so zu einem Ort, den sie in keine Richtung mehr verlassen können. Notdürftig versorgt durch Hilfsorganisationen warten 2 000 bis 3 000 MigrantInnen in der kleinen Stadt auf ihre Abschiebung oder ein Asylverfahren auf dem spanischen Festland. Obwohl der Zaun gebaut wurde, sind jedes Jahr mehr MigrantInnen nach Ceuta gekommen. Viele von ihnen hoffen auf Arbeit im spanischen Andalusien.

 

Infrarot-Satelliten-Foto der Straße von Gibraltar Infrarot-Satelliten-Foto der Straße von Gibraltar - unten rechts ist die Halbinsel von Ceuta erkennbar

 

Von Marokko nach Andalusien - eine kleine Migrationsgeschichte

Die meisten MigrantInnen und Flüchtlinge, die über Marokko nach Europa wollen, versuchen lieber gleich, ans spanische Festland, nach Andalusien zu gelangen. Dort werden Arbeitskräfte gesucht - das weiß man inzwischen von Marokko bis Nigeria. Noch vor 20 Jahren war Andalusien eine der ärmsten Regionen Europas und Auswanderungsgebiet: Die Menschen zogen von hier nach Nord-Spanien oder suchten in Deutschland und England Arbeit. In dieser Zeit war die Grenze zu Marokko für beide Seiten offen. 

Nach dem Beitritt Spaniens zur EU 1985 profitierte Andalusien von Brüsseler Strukturhilfen, dem Ausbau des Tourismus und seit 1988 von der Einführung des europäischen Binnenmarktes. Mit dem Fall der Zollgrenzen wurden die landwirtschaftlichen Produkte der Region durch die niedrigen Lohnkosten in ganz Europa konkurrenzfähig. Zu Beginn der neunziger Jahre boomte die industrialisierte Landwirtschaft - deutlich erkennbar an den riesigen Gewächshausplantagen vor allem im Osten Andalusiens - und der Wohlstand der Spanier erhöhte sich rasant. Um den Lohnkostenvorteil der Region zu erhalten, wurden Arbeitskräfte aus Marokko angeworben. Als die Mitte der neunziger Jahre begannen, sich gewerkschaftlich zu organisieren und höhere Löhne zu fordern, erhielten sie keine Visa mehr. Legitimiert wurde dieses Vorgehen mit dem Abkommen von Schengen. Der seit der spanischen Kolonisierung Nord-Marokkos verbundene transmediterrane Raum um die Straße von Gibraltar wurde wieder durchtrennt. 

Natürlich brauchte die andalusische Landwirtschaft weiterhin billige Arbeitskräfte. Während die offizielle Einreise für MarokkanerInnen nahezu unmöglich wurde, stieg die Zahl der illegalen Grenzübertritte an der nur wenige Kilometer breiten Straße von Gibraltar an. Die ununterbrochene Nachfrage nach Arbeitskraft in der andalusischen Landwirtschaft ist bis heute einer der wichtigsten Gründe der MigrantInnen, die risikoreiche Reise in den kleinen Schlauchbooten auf sich zu nehmen. Als illegalisierte Arbeitskräfte können sie keine Ansprüche auf höhere Löhne, soziale Absicherung oder gesundheitliche Mindeststandards stellen. Das gilt auch für jene Kontingente von SaisonarbeiterInnen, die zu den Erntezeiten über befristete Arbeitsvisa aus Marokko, aber auch aus Rumänien oder Polen nach Andalusien gelangen. 

So dient die strikte Abschottung der EU-Außengrenzen weniger der Verhinderung von Arbeitsmigration, als vielmehr der Rekrutierung von billiger und rechtloser Arbeitskraft. Von dieser Situation profitieren nicht nur die spanischen Plantagenbesitzer in Andalusien, sondern auch die KonsumentInnen überall in Europa, die billige Lebensmittel kaufen können. Einen hohen Preis allerdings zahlen die ArbeiterInnen, deren Boote es nicht schaffen: Über 3 000 Tote wurden seit 1997 an der Strasse von Gibraltar entdeckt. Die Zahl der tatsächlichen Opfer liegt vermutlich weit höher.

 

Die EU-Ostgrenze. Zum Beispiel Polen - Ukraine

Mitte der neunziger Jahre passierten jeden Tag rund 40 000 Menschen die Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Die beiden Länder haben ein gemeinsames Kulturerbe, ihre Sprachen weisen viele Gemeinsamkeiten auf, in der Grenzregion versteht man sich. Nach dem Fall des alten "inneren Eisernen Vorhangs" zwischen der Sowjetunion und ihrem polnischen Nachbarn bestand dort seit 1996 Visumsfreiheit. Doch was wieder zusammenzuwachsen begann, wurde mit dem EU-Beitritt Polens erneut auseinander gerissen: Hochmoderne Grenzbefestigungen trennen Polen jetzt von seinen östlichen Nachbarn. 

Schon vor dem Beitritt zur EU hatte Brüssel von Warschau verlangt, sein Grenzregime den Vorgaben der Union und der Schengen-Staaten anzupassen. In der Folge entstanden in Polen Abschiebegefängnisse und "Bewachte Camps", beispielsweise in Lesznowola, südlich des Flughafens von Warschau, aber auch in Pila, Lublin oder Ostroleka. Für den Ausbau von Grenzposten, den Kauf von Fahrzeugen und Hubschraubern sowie für die Ausrüstung und Ausbildung von Polizisten und Grenzsoldaten stellte Brüssel bereits in den neunziger Jahren erhebliche Mittel zur Verfügung. Bis 2006 sollen den neu eingetretenen EU-Ländern dafür insgesamt eine Milliarde Euro überwiesen werden. 

Im Gegenzug musste Polen zunehmend von Deutschland die Aufgabe übernehmen, die Ostgrenze der Union abzuschotten. Das bedeutete auch, die Visumspflicht gegenüber der Ukraine wieder einzuführen. Dort klagt man über die neue "Wohlstandsgrenze": 40 Prozent der Bewohner des Grenzgebietes, vorwiegend UkrainerInnen, haben vor der EU-Osterweiterung vom kleinen, oft grauen Grenzhandel gelebt. Der zog dann polnisch-ukrainische Firmengründungen und Investitionen aus dem Ausland nach sich. Die Visumspflicht bringt diese Ökonomie im Grenzgebiet wieder zum Erliegen. 

Etwa 1.200 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Polen und seinen östlichen Nachbarn, der Ukraine, Weißrussland und der russischen Enklave Kaliningrad. Wie die gesamte EU-Außengrenze soll sie vor Flüchtlingen und nicht erwünschten MigrantInnen aus ärmeren Ländern schützen und dazu beitragen, dass die EU zum weltweit wichtigsten Wirtschaftsgebiet wird - ohne lästige Arme, aber vielleicht gerade auch deshalb zum Ziel für Fluchten in ein vermeintliches Paradies.

 

ZASt und Abschiebegefängnis Eisenhüttenstadt ZASt und Abschiebegefängnis Eisenhüttenstadt

 

Das Auffanglager und Abschiebegefängnis Eisenhüttenstadt

In Eisenhüttenstadt befinden sich zwei für das Land Brandenburg zentrale Einrichtungen zur Flüchtlingsverwaltung und -repression: die "Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber" (ZASt) mit 650 Plätzen und der Abschiebegewahrsam für 108 Personen. Beide Einrichtungen sind auf einem Gelände untergebracht, das durch hohe Metallzäune mit Natodraht weiträumig abgesperrt ist und sowohl vom Bundesgrenzschutz (BGS) als auch von der privaten Wachschutzfirma B.O.S.S. überwacht wird. 

Im Abschiebeknast arbeiten PolizeibeamtInnen des Landes Brandenburg. Eisenhüttenstadt liegt innerhalb jenes 30 km breiten Grenzstreifens zu Polen, in dem der Bundesgrenzschutz besondere Kontrollbefugnisse hat. Menschen ohne Papiere, die dort aufgegriffen werden oder im Land Brandenburg Asyl beantragen, werden in die ZASt gebracht. Von dort werden sie nach wenigen Monaten in AsylbewerberInnenheime Brandenburgs verlegt, so dass sie allenfalls wenige Monate in Eisenhüttenstadt bleiben - es sei denn, sie kommen direkt in den benachbarten Abschiebeknast. Seit Bestehen der Abschiebeeinrichtung auf demselben Gelände (1997) wurden 133 AsylbewerberInnen direkt aus der Erstaufnahmeeinrichtung in die Abschiebehaft überstellt. 

1992 geriet Eisenhüttenstadt international in die Schlagzeilen, als die ZASt tagelang von Neonazis belagert und unter dem Applaus von Schaulustigen mit Brandflaschen und Steinen attackiert wurde. Mehrere Gebäudeteile brannten damals völlig aus. Diese Pogrome sind - anders als die von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen - in der Öffentlichkeit heute völlig in Vergessenheit geraten. 

Der Abschiebeknast in Eisenhüttenstadt hat es ebenfalls bereits zu fragwürdiger internationaler Bekanntheit gebracht. Im Frühjahr 2003 erschien ein Report des "Komitees zur Verhinderung von Folter und unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Bestrafung" (CPT), einer Einrichtung des Europäischen Parlaments. Die CPT erhob darin schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen im Innenministerium des Bundeslandes und kritisierte insbesondere die "Ruhigstellungsräume", in denen vier Metallringe in den Boden eingelassen sind. An diesen Ringen werden Flüchtlinge mit ausgestreckten Gliedern fixiert, wenn sie sich widersetzen. Das brandenburgische Innenministerium hat die Existenz dieser Räume mittlerweile offiziell eingeräumt; die Fixierungen dauern bis zu 30 Stunden. 

Vom 2. bis 5. September 2004 macht die "Anti-Lager-Action-Tour" in Eisenhüttenstadt Station, um gegen das System der Abschiebeknäste zu protestieren.

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