Geschichte versus Regionalmuseum – eine Gegenüberstellung

Diskussionsveranstaltung am 30. Januar 2012

Bericht von Angela Martin

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An diesem Abend hatte die  Berliner Geschichtswerkstatt drei Gründungsmitglieder des Vereins eingeladen, die heute Museumsdirektoren sind:

– Martin Düspohl, der seit dessen Gründung 1991 das KreuzbergMuseum für Stadtentwicklung und   Sozialgeschichte leitet (mittlerweile heißt es Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg);

– Udo Gößwald, seit 1985 Leiter des Museums Neukölln, und

– Andreas Ludwig, der 1993 das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt gegründet hat und es bis heute leitet.

Die drei Gäste debattierten sehr lebendig über ihre Erfahrungen in der Geschichtsbewegung, und da zahlreiche weitere Gründungsmitglieder der BGW im Publikum saßen, breitete sich bald ein wenig von jener Aufbruchstimmung der frühen 1980er Jahre aus, die die Anfänge der Berliner Geschichtswerkstatt begleitete. Man fühlte sich damals als Teil der Neuen Sozialen Bewegungen, die sich nach dem Abflauen der 68er-Bewegung entwickelte. Den  Alternativen, Bürgerinitiativen und Geschichtswerkstättlern ging es weniger um große Theorien – auch wenn damals viel Lukacs und Benjamin gelesen wurde, wie Udo Gößwald betonte, – sie kümmerten sich vielmehr um den eigenen Lebensraum: Demonstrationen gegen Atomkraftwerke, Proteste gegen den Bau von Straßen und Flughäfen und der Beginn der Hausbesetzerbewegung – das sind nur einige Schlagworte, um die damalige Atmosphäre zu beschreiben.

Die BGW war in die Stadtteilarbeit im Wedding, in Kreuzberg und in Schöneberg integriert. Im Wedding schlug ihr allerdings zunächst eine kalte Wand der Ablehnung entgegen, wie Martin Düspohl erzählte: Als die Wedding-Gruppe des Vereins über den „Roten Wedding“ zu forschen begann, erhielt sie im Heimatmuseum des Bezirks Hausverbot und durfte das Archiv nicht mehr nutzen. Ganz anders reagierte man in Kreuzberg, wo die Kunstamtsleiterin Christa Tebbe die neue Geschichtsbewegung z.B. mit Honorarverträgen unterstützte. Dort fand 1984 auch das Geschichtsfest statt, das erste bundesweite Treffen von Geschichtswerkstätten. Martin Düspohl stellte dafür das damals von ihm geleitete Ballhaus Naunynstraße zur Verfügung. Es kamen mehr als 600 Menschen – zugelassen waren jedoch nur 200 Personen, wie Düspohl lachend berichtete.

„Wem gehört die Geschichte?“, das war die Frage. Genervt von der akademischen Geschichtsschreibung, aber auch in Abgrenzung vom Geschichtsverständnis der 68er Bewegung suchten die „Barfußhistoriker“ nach neuen Ansätzen und Methoden. Andreas Ludwig fand im Charlottenburger Werkbundarchiv eine radikale neue Form, die Geschichte zu demokratisieren: In einer Ausstellung mit Alltagsgegenständen ließ er das Publikum die Dinge umorganisieren, so dass ein neues Geschichtsbild entstand.

Die französische Annales-Schule und der History Workshop in Großbritannien waren die Vorbilder der Geschichtswerkstätten, alltagsgeschichtliche Themen und Methoden der oral history standen im Zentrum. „Wir hatten den Anspruch, den Leuten eine Stimme zu geben“, sagte Udo Gößwald. „Wir hatten Respekt vor dem Zeitzeugen und seiner Biographie – auch im Museum. Für Historiker – anders als für Ethnologen – war das ungewöhnlich.“

Die Geschichtswerkstättler wollten die „Geschichte von unten“ erforschen, also aus Sicht derer, die sie erlebt und erlitten hatten. Und das nach Möglichkeit mit ihnen zusammen. „Laien schreiben Geschichte, das war der große Sprung“, sagte Hilde Schramm, Gründungsmitglied im Publikum. Allerdings war die Zusammenarbeit von Historikern und Laien durchaus schwierig. Ein Beispiel dafür verriet Andreas Ludwig. Vier Jahre lang erforschte eine Gruppe der BGW die Geschichte des Lindenhofs, einer genossenschaftlich organisierten, sozialdemokratisch geprägten Wohnsiedlung im Süden Schönebergs, und publizierte dazu eine Ausstellung und ein Buch. „Allerdings haben die Rechten, die dort wohnten, überhaupt nicht mit uns geredet“, so Ludwig. Nur Leute aus dem sozialdemokratischen Milieu seien ihre Gesprächspartner gewesen, linkere wurden von den führenden Genossen der Genossenschaft ausgegrenzt.

Anders als den Museen, die sich damals durchaus reformierten, ging es den Geschichtswerkstätten aber auch um einen topographischen Zugang. „Aus Geschichte lernen ist nicht in globalem Denken möglich, sondern muss vor Ort stattfinden“, glaubt Martin Düspohl, für den Oskar Negts „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“ ein Schlüsselbuch war. Bewusst rückte die BGW  daher kleine, zuvor oft kaum beachtete Räume ins Blickfeld: einen Arbeiterkiez oder eine Genossenschaftssiedlung in Schöneberg, die „Jüdische Schweiz“, wie das Bayerische Viertel in den dreißiger Jahren genannt wurde, oder später ein Zwangsarbeiterlager in Niederschöneweide.

1983 beteiligte sie sich gemeinsam mit vielen anderen Initiativen an den Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Machtübergabe. „Kulturrat, Berliner Festspiele und Kultursenat fanden das positiv, sie waren offen für die Initiativen“, so Udo Gößwald. Auch wenn es etwa von Seiten der CDU Widerstand gegen die neuen Formen der Geschichtsaufarbeitung gab – die Geschichtswerkstatt war wohl eher zeitgemäß als Avantgarde. Das meinte jedenfalls Susanne zur Nieden, eine der Gründerinnen, die aus dem Publikum mitdiskutierten. Tatsächlich wurde in Berlin der alte Mief der Heimatmuseen schnell weggeblasen. Und auch andernorts wehte in den Regionalmuseen ein neuer Wind, etwa in Rüsselsheim oder Nürnberg, wie Düspohl ergänzte.

Ein weiterer Höhepunkt der ersten Jahre war die 750-Jahr-Feier Berlins 1987. Damals floss viel Geld an die Berliner Geschichtswerkstatt und andere kleine Historikergruppen. Doch dann wurden die finanziellen Verhältnisse schwieriger. Eine institutionelle Förderung hat die BGW nie erhalten, obwohl sie Anlaufpunkt für Journalisten, Historiker, Schüler, Studenten und natürlich für die Stadtteilbewohner ist.

Zuhörer:innen

Mittlerweile haben die Methoden und alltagsgeschichtlichen Themen der Geschichtswerkstättenbewegung  Einzug in die Regionalmuseen gehalten, oral history wird  in Uniseminaren gelehrt. „Was habt Ihr aus der Geschichtswerkstatt mit in die Museen genommen?“ fragte eine Zuhörerin am Ende des Abends die drei Museumsleiter. „Das biographische Prinzip, das Vor-Ort-Prinzip und die Alltagsgeschichte“ kam wie aus der Pistole geschossen die Antwort von Martin Düspohl. Andreas Ludwig betonte, dass man  beim Ausstellen versuchen müsse, Widerspruch zu provozieren. „Die Leute sollen nicht in Gewissheiten verfallen.“ Udo Gößwald meinte angesichts des Bedeutungsverlustes der Berliner Geschichtswerkstatt, dass man noch einmal über Geschichte und Lebenskultur nachdenken müsse. „Und zwar nicht abstrakt, sondern anhand persönlicher Erfahrungen. Wie verfahren die Leute mit Umbrüchen? Wie kann sich die Gesellschaft durch Lebenserfahrung weiterentwickeln?“ Für Gösswalds Museumsarbeit ist daher die subjektive Bedeutung der materiellen Kultur besonders wichtig: „In den Dingen sind Protest, Empathie, Anpassung und vieles mehr abgespeichert.“